Eröffnung einer Verhandlung
5Min.
jetzt anfragen

Eröffnung einer Verhandlung im B2B - Poor Practice versus Best Practice

Dies ist der Beitrag Nr. 1/2024 zu der Reihe „Poor Practice versus Best Practice“, in der ich für Sie solche Strategien/Taktiken/Regeln beschreibe, die in der B2B-Realität eine „poor performance“ bewirken und damit wirtschaftlich sehr teuer werden können. Ich bezeichne solche Strategien/Taktiken/Regeln als „Poor Practice“. Die Poor Practice steht im Widerspruch zu der Praxis der TOP-Experten in der professionellen B2B-Welt („Best Practice“).

Eröffnung einer Verhandlung im B2B - Poor Practice versus Best Practice
TL;DR

In Verhandlungen wird häufig die sogenannte „First Offer Rule“ empfohlen, welche mit dem Anker-Effekt begründet wird, der in durchgeführten Labor-Experimenten beobachtet wird. Hierbei wird ein erstes Angebot gemacht, um einen Referenzpunkt zu setzen, der das nachfolgende Gegen-Angebot beeinflussen soll.

Ich vertrete jedoch die Auffassung, dass diese Regel für die reale B2B-Verhandlungswelt nicht geeignet ist. Ich empfehle demgegenüber die „Never Open Rule“, bei der man die Gegenseite das erste Angebot machen lässt, um nicht aufgrund der Informationsasymmetrie einen Nachteil zu erleiden und so im besten Fall ein besseres Ergebnis erzielt, als vermutet.

Die "Never Open Rule“ zielt darauf ab, das eigene Ergebnis zu optimieren, insbesondere wenn keine ausreichenden Informationen über die Position des Verhandlungspartners verfügbar sind. Professionelle Verhandlungen basieren auf einer fundierten Entscheidungsfindung und somit auf sorgfältig vorbereiteten Positionen, was den Anker-Effekt neutralisiert. Daher sollte man als Verhandler in der Praxis immer gut vorbereitet sein und den Verhandlungspartner das erste Angebot machen lassen.

1. Wenden Sie die Never Open Rule an

Jede Verhandlung beginnt mit dem Element des „Openings“. Dieses hat 3 Phasen. Man steigt typischerweise mit dem Small Talk ein und stimmt an zweiter Stelle gemeinsam die Agenda ab. Danach startet man mit den Positionen zu den einzelnen Themen (z.B. Jobbeschreibung, Vergütung (fix und variabel), Kündigungsfrist, Urlaub usw.). Dabei stellt sich die Frage, welche Regel für die Eröffnung gilt.

  • Es entspricht der Poor Practice, die Anwendung der „First Offer Rule“ zu empfehlen, wonach man das erste Angebot unterbreiten soll. Man ist dann First Mover. So schreiben z.B. Lipp/Kesting/Smolinski, in ihrem Beitrag „What is your best price? im Negotiation Journal, May 2023 auf S. 1 in Bezug auf die akademische Welt: „Scholars typically recommend making the first offer.” Die Expertin Ruzana Glaeser bezeichnet diese Antwort auf die Frage, wer das erste Angebot machen soll, sehr offen als ”amateur answer” (https://www.forbes.com/sites/ellevate/2020/01/31/the-anchoring-effect-in-negotiation-and-how-to-eliminate-it/).
  • Demgegenüber entspricht es der Best Practice, die „Never Open Rule“ anzuwenden. Diese Regel besagt, dass man grundsätzlich die andere Seite eröffnen lassen sollte. Man ist dann selbst der Second Mover.

In dem von mir entwickelten Driver-Seat-Konzept empfehle ich die Never Open Rule und bezeichne diese dritte Phase des Openings als „Smart Start“.


In nachfolgender Ziffer 2 skizziere ich den Hintergrund der Poor Practice.

In Ziffer 3 erkläre ich, warum die Never Open Rule der Best Practice entspricht (Stichwort: Informationsasymmetrie).

In Ziffer 4 erkläre ich, warum der sog. Anker-Effekt in professionell geführten Verhandlungen neutralisiert wird (Stichworte: Wissen statt Schätzung, Verteidigungsmotiv).


2. Hintergrund der First Offer Rule und Beispiel für die Poor Practice

Die First Offer Rule beruht auf den Ergebnissen von Labor-Experimenten betreffend den sog. „Anker-Effekt“. Dieser wird wie folgt definiert: „Unter Urteilsunsicherheit können Ausgangswerte ein nachfolgendes Urteil beeinflussen. Das Urteil bzw. die Schätzung wird dabei typischerweise an den Ankerwert angeglichen (sog. Ankerassimilation)“ (Werth/Mayer, Sozialpsychologie, 2008, S. 81, Hervorhebung d.d. Autor). Der Anker-Effekt setzt also immer voraus, dass (i) bei dem Verhandlungspartner (Second Mover) vor dem Wahrnehmen der Anker-Position (z.B. „wir fordern sieben Prozent Lohnerhöhung“) in Bezug auf diese Anker-Position – z.B. mangels Vorbereitung – eine Urteilsunsicherheit besteht, die (ii) den Second Mover dazu zwingt, in Bezug auf seine Position spontan eine intuitive Schätzung vorzunehmen („Schätzung statt Wissen“). Die Ergebnisse sind typischerweise immer gleich: Der Second Mover, der im Experiment zur spontanen Schätzung gezwungen wird, entscheidet sich im Wege des Adjustierens für eine Position, die sich an der zuvor vom First Mover genannten Anker-Position orientiert.

Solche Experimente werden von Wissenschaftlern unter künstlichen Labor-Bedingungen mit sehr genauen Anweisungen durchgeführt (z.B. Teilnehmer: nur Studenten, Dauer des Experiments: 11 Minuten (davon 1 Minute Orientierung, 10 Minuten Verhandlung), Vergütung für Teilnahme: EUR 3,00, Bonus für Erreichen eines Deals EUR 1,00; vgl. Lipp/Kesting/Smolinski, What is your best price?, in Negotiation Journal, May 2023, S. 14 und 27).

Es geht in diesen Experimenten immer um Fälle, in denen der Gefragte nicht weiß, wie die richtige Antwort lautet (vgl. Werth/Mayer, S. 72). Übertragen auf Experimente mit Verhandlungen bedeutet das: Bevor der Second Mover die Anker-Position wahrnimmt, weiß er nicht, was er fordern will.

Beispiel eines Labor-Experiments:

Amos Tversky und Daniel Kahneman manipulierten bei einem Versuch zunächst ein Glücksrad mit den Zahlen von 1 bis 100 so, dass es entweder bei der 10 oder bei der 65 stehen blieb. Die Studenten, die an der Versuchsreihe teilnahmen, mussten zunächst das Glücksrad beobachten, das von Tversky/Kahneman zum Drehen gebracht wurde. Nachdem das Glücksrad von selbst stoppte, musste sich jeder Student die Zahl notieren, die auf dem Glücksrad stand, also 10 oder 65. Danach stellten Tversky/Kahneman zwei Fragen. Frage Nr. 1: Liegt der Prozentsatz der afrikanischen Staaten der Vereinten Nationen über oder unter der Zahl, die Sie gerade notiert haben (also über/unter zehn Prozent oder über/unter 65 %)? Die Antworten wurden notiert, auf diese kam es jedoch nicht an. Die Frage sollte nur bewirken, dass der zuvor notierte Anker (zehn bzw. 65) nochmals in Form einer Frage wiederholt wurde. Frage Nr. 2: Wie hoch schätzen Sie den Prozentsatz der afrikanischen Staaten in den Vereinten Nationen? Obwohl offensichtlich war, dass die Zahl eines Glückrades keinerlei nützliche Informationen zur Beantwortung der Frage liefern kann, wurden die Studenten doch von dem Anker der Frage 1 beeinflusst: die Gruppe der Studenten, die sich die Zahl 10 notiert hatte, schätze die Zahl der afrikanischen Staaten im Durchschnitt auf 25 % und die Gruppe, die sich die Zahl 65 notiert hatte, schätze die Zahl der afrikanischen Staaten im Durchschnitt auf 45 %. Der „Anker 10“ bewirkte also das durchschnittliche Schätzergebnis 25, der „Anker 65“ führte zu dem durchschnittlichen Schätzergebnis 45 (vgl. Kahneman, zitiert nach Rock, Erfolgreiche Verhandlungsführung mit dem Driver-Seat-Konzept (2019), S. 343).


Anmerkung: Würde man das Experiment etwas verändern und eine dritte Gruppe teilnehmen lassen, der man vorher sagt: „Bitte notieren Sie sich: 28% der Staaten der UN sind afrikanische Staaten“, so würden diese Studenten wohl kaum auf den jeweiligen Anker (10 oder 65) durch ein „Adjustment“ reagieren; sie würden wohl ihr Wissen preisgeben und antworten: „28%“. Schon hier sein angemerkt: Wissen ist die wirksamste Abwehr gegen den Anker-Effekt. Dieser Abwehrmechanismus wird in den Labor-Experimenten jedoch künstlich eliminiert.

Beispiel für die Poor Practice

Als sehr anschauliches Beispiel dient hier das „Working Paper Forschungsförderung, Nummer 323, März 2024 der Autoren Mann/Warsitzka/Hüffmeier/Trötschel (vgl. https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-008812) mit dem Titel „Das UNITED-Mindset für gewerkschaftliche Verhandlungsführung“. In diesem Working Paper 323 („WP 323“) empfehlen die Autoren zunächst auf S. 11 das „Ankern“.


Auf S. 12 des WP 323 formulieren die Autoren zur Wirkung: „Durch das Unterbereiten eines ersten Angebots nutzen gewerkschaftlich Verhandelnde den Ankereffekt gezielt aus.“Auf S. 11 des WP 323 wird behauptet, man könne sich als Gewerkschaft durch ein „ambitioniertes erstes Angebot einen Vorteil in der Verhandlung verschaffen“ (Hervorhebung d.d. Autor).Zur Begründung wird auf S. 12 des WP 323 auf die Ergebnisse von Labor-Experimenten verwiesen: „Forschungsergebnisse zeigen, dass sich ambitionierte Eröffnungsvorschläge für die anbietende Partei in Form besserer Verhandlungsergebnisse bezahlt machen (Galinsky/Mussweiler, 2001).“
Das WP 323 weist u.a. zwei sehr schwerwiegende Mängel auf:

  • Die pauschale Aussage „Ankern Sie“ ignoriert den Aspekt der Informationsasymmetrie. Dieser Aspekt begründet für Profis – aufgrund analytischen Denkens - die Anwendung der Never Open Rule (vgl. nachf. Ziffer 3).
  • Die Aussage „Nutzen Sie den Anker-Effekt zu Ihrem Vorteil“ ignoriert u.a. die Tatsache, dass das Motto dieser Experimente („Schätzung statt Wissen“) nicht identisch ist mit der dem Motto von professionell geführten B2B-Verhandlungen („Wissen statt Schätzung“). Zudem wird von den Anhängern der Poor Practice die typische Motivation von Akteuren der B2B-Welt übersehen (Stichwort: Verteidigungsmotiv). In der professionellen B2B-Welt wird der Anker-Effekt durch Anwendung der Best Practice vor/während/nach der Verhandlung neutralisiert (vgl. nachf. Ziffer 4).

3. Die Never Open Rule entspricht der Best Practice

Die o.g. im Labor entwickelte First Offer Rule kann nicht unverändert in die Praxis übertragen werden, da die Gegebenheiten der professionellen B2B-Realität von den konkret diktierten Bedingungen in den Laboren abweichen.

Partner-Analyse Alt

Malhotra/Bazerman empfehlen dementsprechend in ihrem Buch „Negotiation Genius“ (2008) auf S.30 in realen Verhandlungen nur dann den Anker zu setzen (also das First Offer zu unterbreiten), wenn man ausreichende Informationen über die Stopp-Positionen (dort als „reservation value“ bezeichnet) der anderen Seite hat.


Wenn hingegen eine Informationsasymmetrie vorliegt (man also die Stopp-Positionen der anderen Seite nicht kennt), soll man die andere Seite eröffnen lassen.


Die Erforderlichkeit dieser vorrangigen Weichenstellung (ich bezeichne sie hier als „Partner-Analyse Alt“) ist offensichtlich: Nur wer aufgrund einer Partner-Analyse ausreichende Informationen zu den Positionen hat, die der Verhandlungspartner geltend machen wird („Partner-Positionen“), kann zuverlässig beurteilen, ob die beabsichtigte „Anker-Position“ (z.B. EUR 160.000 fix Vergütung p.a.) (i) besser ist als die Partner-Position (z.B. EUR 120.000 p.a.) oder (ii) schlechter ist als die Partner-Position (z.B. EUR 180.000 p.a.). Im zweiten Fall würde der eigene Anker zum unsichtbaren Bumerang werden: man hätte z.B. EUR 160.000 als Anker gefordert, der Partner hätte (was man nicht weiß) EUR 180.000 geboten, was er aber vermutlich nicht mehr macht, wenn der First Mover nur EUR 160.000 fordert. Sie werden das als First Mover vermutlich nie erfahren, weshalb ich vom „unsichtbaren“ Bumerang spreche. Als First Mover hört man nie das Lachen des Second Movers über den Bumerang.


In Ergänzung zu Malhotra/Bazerman ist im Rahmen der Partner-Analyse als zentraler Weichenstellung auch zu beachten, dass jede Entscheidung für jede Partner-Position von jedem Partner “immer auf der emotionalen Ebene im Spannungsfeld zwischen den Wünschen und den Ängsten (getroffen wird). Sie wird (erst) danach mit sachlogischen Argumenten ausgestattet” (Salewski, Die Kunst des Verhandelns (2008), S. 47).

Oder kurz: “Wir entscheiden uns „im Bauch“ und begründen diese Entscheidungen dann „mit dem Kopf““ (S. 47).Menschen präferieren das, “was für sie den höchsten erwarteten hedonischen Wert hat” (Pfister/Jungermann/Fischer, Die Psychologie der Entscheidung, 4. Aufl. (2017), S. 310). Dabei wird auf den subjektiven Nutzen entsprechend der einfachen Bewertung “angenehmes Gefühl” oder “unangenehmes Gefühl” abgestellt” (vgl. Pfister et al. (2017), S. 310).

Partner-Analyse Neu

Aufgrund dieser Erkenntnis (Entscheidungen sind immer emotional) sollte man bei der „Partner-Analyse Neu“ wie folgt vorgehen: (1) Klären Sie vor dem Opening zuerst, ob Sie ausreichende Informationen darüber haben, welche Bauch-Entscheidungen Ihr Verhandlungspartner in Bezug auf seine Positionen getroffen hat; (2) wenn Sie über ausreichende Informationen verfügen, können Sie das erste (ambitionierte) Angebot machen, um (möglicherweise) den Anker-Effekt zu bewirken; (3) wenn Sie hingegen nicht über ausreichende Informationen zu den Bauch-Entscheidungen Ihres Verhandlungspartners verfügen, sollten Sie auch nicht das erste Angebot machen; lassen Sie also Ihren Verhandlungspartner eröffnen und bleiben Sie damit Second Mover.


Wenn man keine ausreichenden Informationen über die Partner-Positionen hat, ist das First Offer ein rein intuitives und völlig orientierungsloses Angebot. Lipp/Kesting/Smolinski beschreiben dieses Phänomen auf S. 55 Ihres sehr lesenswerten (und wissenschaftlich prämierten) Beitrags „Toward a Process Model of First Offers and Anchoring in Negotiations”: “First offers are somewhat comparable to a “battleship” game. With no knowledge of the opponent ship’s location, a random shot must be performed. If one has additional reference points, such as the first hit on an opponent’s ship, the shots can be more targeted. This is a difficult and complex process strongly influenced by impressions.”

Fazit 1:

Geht man nun davon aus, dass man in der professionellen B2B-Praxis vor der Verhandlung in der Regel nicht genügend Informationen darüber hat, welche Bauch-Entscheidungen der Partner zu den einzelnen Partner-Positionen getroffen hat, ist eine Informationsasymmetrie gegeben, die logischerweise zu der Regel führt, nicht das erste Angebot zu unterbereiten („Never Open Rule“).Achtung: Selbst wenn Sie glauben, Sie hätten genügend Informationen, sollten Sie diese Annahme sofort verwerfen. Mein Anwaltskollege Geoge H. Ross empfiehlt völlig zutreffend in seinem sehr lesenswerten Buch „Trump Style Negotiation“ (2006) auf S. 37, alle Annahmen über den Verhandlungspartner in Frage zu stellen: „The key is to start out with the belief that all of your assumptions and estimates about the other side are wrong and then be pleasantly surprised to learn some of them were right.“

Folgendes Bumerang-Beispiel aus der professionellen B2B-Welt zeigt das Risiko eines „random shots, …strongly influenced by impressions“ sehr anschaulich: Ein potentieller Geschäftsführer (der im aktuellen Job EUR 100.000 p.a. als fixe Vergütung erhält) wollte künftig EUR 150.000 p.a. verdienen und deshalb als „Anker“ EUR 160.000 p.a. fordern. Ich habe ihn gefragt, ob er genau weiß, was sein Verhandlungspartner ihm anbieten wird. Er sagte „nein“. Ich habe ihm empfohlen, den Partner eröffnen zu lassen (Never Open Rule). Das Ergebnis: Der zukünftige Chef hat EUR 180.000 fix plus EUR 20.000 variabel p.a. plus Dienstwagen der oberen Mittelklasse angeboten. Mit der Never Open Rule hatte mein Mandant damit seine zuletzt erzielte Vergütung verdoppelt. Die Never Open Rule (entwickelt für die reale B2B-Welt) ist damit der First Offer Rule aus der akademischen Welt („Scholars typically recommend making the first offer”) weit überlegen.

Fazit 2:

Bei genauer Betrachtung sind Sie bei professioneller Anwendung der Partner-Analyse Neu immer Second Mover. Wenn Sie nämlich die Bauch-Entscheidungen zu den Positionen Ihres Verhandlungspartners kennen, wirkt diese Kenntnis wie ein Anker (vgl. Lipp et al., S. 59). Aufgrund der Anwendung der Best Practice (Bestimmung der eigenen Positionen durch den Decision Maker) neutralisieren Sie jedoch den Anker-Effekt; vgl. nachf. Ziffer 4).

4. Neutralisieren Sie als Second Mover den Anker-Effekt

Nun wird erläutert, warum die Aussagen aus der akademischen Welt auf S. 12 des WP 323 „Durch das Unterbereiten eines ersten Angebots nutzen gewerkschaftlich Verhandelnde den Ankereffekt gezielt aus “ und auf S. 11 des WP 323, man könne sich als Gewerkschaft durch ein „ambitioniertes erstes Angebot einen Vorteil in der Verhandlung verschaffen“ (Hervorhebung d.d. Autor) offensichtlich nicht zutreffen.

4.1 Die Best Practice führt zur präventiven Neutralisierung des Anker-Effekts

Wie schon oben hervorgehoben, beruht der Anker-Effekt auf einer Schätzung des Second Movers, die dieser im Experiment vornehmen muss, weil er nicht weiß, wie er sich entscheiden soll.Dies bedeutet umgekehrt: wer vor der Verhandlung positiv weiß, was er fordern wird, schätzt nicht während der Verhandlung, es besteht bei ihm keine Urteilsunsicherheit, der beabsichtigte Anker-Effekt wird also durch das „Wissen“ vor der Verhandlung präventiv neutralisiert.


Genau deshalb erhalten in professionell geführten B2B-Verhandlungen Verhandlungsführer von ihrem Decision Maker eine Weisung, bevor sie die Verhandlung betreten. Diese Weisung betrifft sämtliche Positionen, die in Bezug auf alle Themen (z.B. Lohnerhöhung, Dauer, Einmalzahlung usw.) geltend zu machen sind. Aufgrund des Mottos „Wissen statt Schätzung“ nimmt der Verhandlungsführer zwar den Anker in der Verhandlung wahr, er fängt aber nicht an, als Second Mover spontan zu adjustieren, er nennt vielmehr die ihm vor der Verhandlung vorgegebenen Positionen.


Wenn er Positionen zu Themen hört, auf die er nicht vorbereitet ist, formuliert der professionelle Verhandlungsführer z.B.: „Ich nehme das mal so mit und stimme mich intern ab“. Durch das Reporten an den Decision Maker kann dieser – aus der Distanz – analytisch über den „Anker“ nachdenken und die Gegen-Position entwickeln. Auch hierdurch (analytisches Denken) wird der Anker-Effekt neutralisiert.


Die Empfehlung, analytisch nachzudenken, entspricht exakt der Empfehlung des Nobelpreisträgers Daniel Kahneman, der den Anker-Effekt intensiv untersucht hat. Auf S. 172 seines Werks Thinking, Fast and Slow empfiehlt er für den Fall, dass Sie erst nach dem Wahrnehmen der Anker-Position damit beginnen, zu überlegen, was Sie fordern wollen: Denken Sie bewusst das Gegenteil und denken Sie über Argumente nach, die gegen die Anker-Position sprechen. Malhotra/Bazerman empfehlen 5 Strategien zur Neutralisierung des Anker-Effekts ((2008), S. 31 ff.). U.a. bestätigen sie: „The best way to stave off influence is to stick to your original game plan“ (S. 31). Leigh L. Thompson stellt klar: „It is essential that you plan your opening offer before hearing the other party`s openig – otherwise you risk beeing anchored by the other party`s offer. … Thinking about … one`s own target point completely negates the powerful anchoring impact“ (The Mind and Heart of the Negotiator, 6th edition (2015, S. 69). Dies entspricht exakt dem Vorgehen nach meinem Driver-Seat-Konzept: Positionen vorbereiten und vom Negotiator vortragen lassen.


Diese Neutralisierung ist - auch unter Experten - nicht durchgängig bekannt. So schreibt z.B. ein Verhandlungstrainer im August 2024 auf LinkedIn: „Die Sache mit der Neutralisierung verschließt sich mir“. Ein Professor, der sich intensiv mit dem Anker-Effekt befasst hat, schreibt auf LinkedIn Ende August 2024: „Das Schönste am Anchoring-Effekt ist, dass er wirkt, egal ob man an ihn glaubt oder nicht, egal ob man große M&A Deals verhandelt oder Preise der Äpfel und egal ob man ein Wissenschaftler oder ein Praktiker ist ... Ich bin gerne bereit, meine Meinung zu ändern, wenn das Gegenteil mit wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen wird. Bis jetzt habe ich keine solche Studie gefunden, aber vielleicht kommt sie irgendwann …“. In diesem Statement werden vier Dinge übersehen: (i) Der Anker-Effekt (Schätzung des Second Movers) wirkt nicht, wenn er neutralisiert wird (vgl. Malhotra/Bazermann, S. 31 ff.), (ii) die wirksamste Neutralisierung geschieht durch positives Wissen („Knowledge is the best antidote to anchoring!”; https://www.forbes.com/sites/ellevate/2020/01/31/the-anchoring-effect-in-negotiation-and-how-to-eliminate-it/; vgl. auch nachf. Mark Schweizer), (iii) eine solche Neutralisierung durch positives Wissen geschieht in professionell geführten B2B-Verhandlungen (der Second Mover weiß, welche Positionen er vertreten wird, bevor er die Verhandlung betritt) und (iv) auf die angeblich fehlende Studie weist Thompson auf S. 69 hin: „… Thinking about … one`s own target point completely negates the powerful anchoring impact.“


Demgegenüber wird der Abwehrmechanismus „Wissen“ in den Labor-Experimenten bewusst eliminiert, dort darf der Second Mover kein Wissen haben, er muss in seinem Urteil unsicher sein und muss deshalb schätzen. Dies ist so, als würde man (i) ein Elfmeterschießen im Labor simulieren und den Torwart neben das Tor stellen (Unterdrückung der Abwehr), (ii) aus den Erkenntnissen der Simulation eine Regel ableiten (z.B. „es ist nur wichtig, in das Tor zu schießen, dann erzielt man auch immer ein Tor“), (iii) diese Labor-Regel auch für jedes reale Elfmeterschießen empfehlen, (iv) ohne zu bedenken, dass im realen Elfmeterschießen ein Torwart im Tor steht, der möglicherweise den Ball hält (in der Realität ist die Abwehr aktiv, so wie das Wissen als Abwehr des Anker-Effekts wirkt).


Der bekannte Schweizer Jurist Prof. Dr. Mark Schweizer (https://www.markschweizer.ch) hat schon in seiner sehr beeindruckenden Dissertation aus dem Jahre 2005 mit dem Titel „Kognitive Täuschungen vor Gericht - Eine empirische Studie“ in § 8 Ankereffekt (anchoring) (Rz. 191 ff.) mehrere Anker-Experimente geschildert und u.a. festgehalten: “Einen mässigenden Einfluss auf den Ankereffekt hat das Wissen der schätzenden Person über den tatsächlichen Zielwert. Das leuchtet unmittelbar ein, wenn man sich den Extremfall vorstellt, in dem die Person den richtigen Wert mit Sicherheit kennt: kein Richter wird den Streitwert für die Berufung an das Bundesgericht in vermögensrechtlichen Zivilstreitigkeiten höher schätzen, wenn man ihn vorher fragt, ob der wahre Wert über oder unter Fr. 100'000 liegt. Die eindeutige Antwort auf die Frage steht im Gesetz (Art. 46 Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege) und dürfte den meisten Richtern bekannt sein; eine Beeinflussung durch den Anker ist daher ausgeschlossen.”

4.2 Neutralisieren Sie präventiv mit dem Verteidigungsmotiv (statt Schätzung)

Zudem wird der Anker-Effekt in der professionellen B2B-Welt aufgrund des sog. Verteidigungsmotivs, das typischerweise auf beiden Seiten vorherrscht, neutralisiert.
Wer schon einmal Tarifverhandlungen in der Presse mitverfolgt hat, weiß, dass weder die Gewerkschaft noch die Arbeitgeberseite bereit ist, den Anker der jeweils anderen Seite als Maßstab für eine Schätzung der eigenen Forderung zu akzeptieren. Ein intuitives Assimilieren kann in professionell geführten B2B-Verhandlungen, insbesondere in Tarifverhandlungen ausgeschlossen werden.

Das vorbezeichnete Verteidigungsmotiv ist Bestandteil des aus der Sozialpsychologie bekannten Heuristisch-Systematischen Modells (“HSM”). Dieses nennt 3 klassische Motive, die die Informationsverarbeitung inhaltlich beeinflussen können (vgl. Fischer/Asal/Krueger, Sozialpsychologie (2014), S. 92), eines davon ist das Verteidigungsmotiv, das besagt, dass Einstellungen/Entscheidungen/Standpunkte gerechtfertigt bzw. verteidigt werden. Dieses Motiv ist bei Tarifverhandlungen auf beiden Seiten zu erkennen und neutralisiert den Anker-Effekt

Portrait von Hermann Rock, Spezialist für professionelle Verhandlungsführung

Dr. Hermann Rock

Rechtsanwalt

Play to win > create satisfaction

Entwickler des Driver-Seat-Konzepts | Über 20 Jahre Verhandlungserfahrung „am Tisch“ | Autor mehrerer Fachbücher zum Thema „Professionelle Verhandlungsführung“

Kundenstimmen:

Profilbild von Dr. Christoph Mund. Managing Director, Change & Innovation Management

Dr. Christoph Mund

Managing Director, Change & Innovation Management

"Dr. Hermann Rock ist Dozent in unserem Change & Innovation Management Studiengang, welches die Universität St. Gallen in Kooperation mit Dr. Wladimir Klitschko jährlich durchführt. Im Rahmen des Programms lehrt Hermann das Thema Verhandlung. Unsere Führungskräfte sind jedes Jahr aufs Neue von seinem Erfahrungsschatz, praxisnahen Tipps und wissenschaftlichen Erkenntnisse begeistert. Die Kombination aus Best-Practice und anwendungsorientierten Fallbeispielen schafft für unsere Teilnehmer einen nachhaltigen Mehrwert im Transfer. Wir können Hermann als Referent bedingungslos weiterempfehlen und stehen für weitere Auskünfte sehr gerne zur Verfügung."

Profilbild Neutral & Anonym

CA Prof. Dr. H.

Chefarzt

"Ich war als Chefarzt sehr glücklich mit meinem Beruf, aber sehr unglücklich mit dem Gehalt. Dr. Hermann Rock hat mit unermesslicher Freundlichkeit, perfekter Systematik und absoluter Präzision die Verhandlungen mit dem Geschäftsführer geleitet.  Das Interesse der Gegenseite war gering, aber Dr. Rock hat durch geschickten Strategiewechsel das Interesse geweckt, die Motivation enorm hochgefahren und das Zielgehalt für mich erreicht. Interessant war, dass er die Reaktionen der Gegenseite immer voraus gesagt hat und diese sind immer genau so auch eingetroffen. Ich bin ihm unendlich dankbar, weil ich jetzt mit Beruf und Gehalt zufrieden bin."

Ihnen stehen schwierige Verhandlungen bevor?