Wann und wie Profis ihre Stopp-Positionen bestimmen
Dies ist der Beitrag Nr. 2/2024 zu der Reihe „Poor Practice versus Best Practice“, in der ich Strategien, Taktiken und Regeln beleuchte, die in der B2B-Praxis oft zu ineffizienten Ergebnissen führen und hohe wirtschaftliche Kosten verursachen. Solche Ansätze bezeichne ich als „Poor Practice“, im Gegensatz zu den bewährten Methoden und Vorgehensweisen der führenden Experten der professionellen B2B-Welt, der sogenannten „Best Practice“. Erfahren Sie in diesem Beitrag, wann und wie Sie als Profis in Verhandlungen gemäß der Best Practice Ihre Stopp-Positionen bestimmten sollten.
Bestimmen Sie Ihre Stopp-Positionen erst am Ende der Verhandlung, nachdem Sie alle verfügbaren Informationen analysiert und eine fundierte Abwägung getroffen haben. Vorgefertigte „Schmerzgrenzen“ sind häufig hinderlich, da sie Ihre Flexibilität sowie eine kreative Lösungsfindung einschränken können. Konzentrieren Sie sich stattdessen auf Ihre Zielpositionen und verfolgen Sie ein strategisch fundiertes Vorgehen, um optimale Verhandlungsergebnisse zu erzielen.
Wie lautet die Best Practice?
Die Best Practice besagt: Bestimmen Sie Ihre „Stopp-Positionen“ grundsätzlich
(i) erst am Ende der Verhandlung und
(ii) entsprechend Ihrer individuellen Einschätzung.
In Bezug auf die Bestimmung der Stopp-Positionen (Walk Away Positions) empfehle ich jedem Decision Maker, den ich berate, folgende 3 Regeln:
- Ziel: Fokussieren Sie sich (als Decision Maker) am Anfang auf die eigenen Ziel-Positionen und die Start-Positionen (optimierte Ziel-Positionen, mit denen Ihr Negotiator an den Start geht). Das Motto der Elite der Verhandlungsführer lautet: „Focus on your goal“ (Dominick J. Misino).
- Zeitpunkt: Bestimmen Sie grundsätzlich Ihre Stopp-Positionen (Abbruch der Verhandlung) erst, nachdem Sie alle in der gegebenen Situation verfügbaren Informationen ausgewertet haben, also am Ende der Verhandlung.
- Maßstab: Bestimmen Sie über den Abbruch der Verhandlung nach Ihrer individuellen Abwägung aller Vor- und Nachteile in Bezug auf den „Walk Away“. Es geht beim Abbruch immer um den von Ihnen individuell empfundenen subjektiven Nutzen.
Dieses Vorgehen entspricht der Best Practice.
Für Anwälte ist dieses Vorgehen (Bestimmung der Stopp-Positionen am Ende der Verhandlung und auf der Grundlage einer unternehmerischen Abwägung) selbstverständlich, denn der Bundesgerichtshof verlangt (zur Haftungsvermeidung) gemäß der sog. „Business Judgement Rule“ vom Decision Maker (Vorstand/Geschäftsführer) u. a., dass er für jede Handlungsalternative zuerst alle verfügbaren Informationsquellen ausschöpft und erst danach alle Vor- und Nachteile abwägt (vgl. Ziemons/Jaeger in Haas/Ziemons, Beck OK GmbHG, § 43 Rn. 109). Dabei ist jede einzelne Verhandlung eine zentrale Informationsquelle. Die am Ende der Verhandlungen zu treffende unternehmerische Entscheidung kann “auf Instinkt, Erfahrung, Phantasie und Gespür für künftige Entwicklungen und einem Gefühl für die Märkte und die Reaktion der Abnehmer und Konkurrenten” (Grieger, Oehlschlaegel, Schön, Jarrelss, NJOZ 2024, 641 ff.) beruhen.
Zur Klarstellung: Diese Regel bezieht sich nicht
(i) auf rechtlich zwingend vorgegebene “rote Linien”, wie z.B.: “Unser Unternehmen führt keine Verhandlungen mit Firmen, die auf einer Embargoliste stehen” und nicht
(ii) auf Auktionen, bei denen es nur um den Preis geht.
Wenn es um zwingende rote Linien geht, ist ein Abweichen davon immer ausgeschlossen. Wenn es nur um den Preis geht (z.B. im Rahmen der Verhandlungen im Automotive Bereich), dann müssen Sie zwingend vor der Verhandlung wissen, bei welchem Preis Ihr Negotiator aussteigen muss, um nicht in die Verlustzone zu geraten.Anderslautende Vorschläge („Bestimmen Sie Ihre Stopp-Positionen immer vor der Verhandlung) sind m.E. ein sehr deutliches Indiz für einen gravierenden Mangel an praktischer Erfahrung (es wird unterschätzt, wie viele relevante Informationen im realen Leben in der Verhandlung gewonnen werden). Auch das Harvard-Konzept lehnt (zu Recht) die Bestimmung einer starren „Schmerzgrenze“ vor der Verhandlung ab (s.u. "Poor Practice: Schmerzgrenze/BATNA").
Stopp-Positionen - Ein Beispiel aus der Praxis
Der Decision Maker (Gesellschafter der GmbH) gibt mir vor der Verhandlung mit einem wichtigen potentiellen CEO u.a. die Instruktion, in Bezug auf den Dienstvertrag eine Laufzeit von 5 Jahren zu fordern und dies u.a. mit dem „Standard“ zu begründen. Dies wurde mir als „Start-Position“ vorgegeben. Aus Sicht des Decision Makers war es auch seine Stopp-Position, dies hat er mir aber nicht offengelegt. Während der Verhandlung fordert der finanziell unabhängige Manager eine Kündigungsfrist von einem Monat zum Monatsende (maximale Flexibilität für ihn) und begründet dies wie folgt: „5 Jahre sind doch nur eine Scheinsicherheit für Ihre Seite. Wenn ich nicht mehr motiviert bin, mache ich nichts mehr, ob mit oder ohne Vertrag. Ich werde definitiv keine längere Kündigungsfrist als einen Monat akzeptieren. Meine Freiheit geht mir absolut vor.
“Ich habe diese neue Situation im Rahmen des „Debriefings“ an den Decision Maker reportet. Er hat dann – nach internen Diskussionen – entschieden: „Wir akzeptieren (ausnahmsweise und erstmals) die sehr kurze Kündigungsfrist, weil wir das Mind-Set dieser (finanziell unabhängigen) Persönlichkeit nicht ändern können. Ich will diese Persönlichkeit aber „als CEO an Bord“ haben“.
Hätte der Decision Maker mir die 5-Jahres-Frist vor der Verhandlung als Stopp-Position bzw. absolute Schmerzgrenze genannt (das war es aus seiner Sicht vor der Verhandlung), hätte ich die Verhandlungen sofort (ohne Reporting an den Decision Maker) abbrechen müssen. Mein Mandant hätte dann einen großartigen Geschäftsführer nicht anstellen können.
Poor Practice - Schmerzgrenze/ BATNA
Viele Verhandlungsbücher und Experten empfehlen, vor der Verhandlung die „Stopp-Positionen“ (auch als „Reservation Value“ oder „Walk Away Position“ bezeichnet) unbedingt festzulegen. Das Harvard-Konzept differenziert zwischen einer „Schmerzgrenze“ (die abgelehnt wird) und den Positionen der BATNA, die inhaltlich den Stopp-Positionen entsprechen sollen.
Die individuell bestimmte Schmerzgrenze
Bei der (individuell bestimmten) „Schmerzgrenze“ handelt es sich nach Harvard um ein
(i) vor der Verhandlung festgelegtes und
(ii) nicht veränderbares „Ergebnis, das sie gerade noch akzeptieren können“ (S. 148), also z.B. einen Höchstpreis oder einen Mindestpreis.
Das Harvard-Konzept lehnt eine solche „Schmerzgrenze“ aus drei Gründen ab:
(i) die „Schmerzgrenze“ ist zu starr, weil Informationen, die Sie erst im Laufe der Verhandlung erhalten, von Ihnen nicht berücksichtigt werden können,
(ii) die „Schmerzgrenze“ verhindert kreative Lösungen (vgl. S. 149) und
(iii) die „Schmerzgrenze“ ist willkürlich (und nicht rational): „Eine willkürlich festgelegte Zahl ist kein Maßstab dafür, was Sie akzeptieren sollten“ (S. 150), denn „Es ist unwahrscheinlich, dass eine willkürlich gewählte Schmerzgrenze Ihre wahren Interessen … wiedergibt“ (S. 151).
Wenn man die „Schmerzgrenze“ als vorab festgelegte Stopp-Position definiert, die zudem kreative Lösungen während der Verhandlung verhindert, ist sie natürlich abzulehnen.Völlig unakzeptabel ist demgegenüber die (arrogante) Ablehnung einer individuell festgelegten (willkürlichen) Stopp-Position.
Das Harvard-Konzept übersieht insoweit, dass alle Decision Maker ihre Entscheidungen (auch in Bezug auf Stopp-Positionen) “immer auf der emotionalen Ebene im Spannungsfeld zwischen den Wünschen und den Ängsten (treffen). Die Entscheidung wird (erst) danach mit sachlogischen Argumenten ausgestattet” (Salewski, Die Kunst des Verhandelns (2008), S. 47).
Oder kurz: “Wir entscheiden uns „im Bauch“ und begründen diese Entscheidungen dann „mit dem Kopf““ (S. 47). Menschen präferieren das, “was für sie den höchsten erwarteten hedonischen Wert hat” (Pfister/Jungermann/Fischer, Die Psychologie der Entscheidung, 4. Aufl. (2017), S. 310). Dabei wird auf den subjektiven Nutzen entsprechend der einfachen Bewertung “angenehmes Gefühl” oder “unangenehmes Gefühl” abgestellt” (vgl. Pfister et al. (2017), S. 310).
Positionen der BATNA als Stopp-Position
Das Harvard-Konzept empfiehlt, die (jeweils aktuellen) Positionen der BATNA als Stopp-Position für den bevorzugten Deal zu verwenden, d.h. Sie sollen sich vor Bestimmung der Stopp-Positionen fragen, was Sie tun, wenn Sie den beabsichtigten Deal nicht machen (No Deal Option). Diese Situation, die sehr schlecht sein kann, ist nach dem Harvard-Konzept Ihre „einzige Messlatte, mit der sie verhindern können, dass sie Bedingungen annehmen, die nicht in ihrem Interesse sind, oder dass sie Bedingungen ausschlagen, die in ihrem Interesse wären“ (S. 151). Wenn Sie anders handeln, handelt es ich um „errors“ (Thompson (2015), S. 38).
Nicht selten ist das nur der Status quo (die Gespräche mit einem eventuell neuen Arbeitgeber scheitern und Sie bleiben beim bisherigen Arbeitgeber, behalten also Ihren Status quo). Möglicherweise haben Sie auch mehrere Alternativen (Gespräche mit mehreren potentiellen Arbeitgebern), dann ist die BATNA die Beste aller vorhandenen Alternativen. Dieses Vorgehen wird vom Harvard-Konzept als rational bezeichnet.
Ich lehne dieses Vorgehen aus zwei Gründen ab. Erstens: Eine rationale Methode übersieht, dass Menschen emotional entscheiden, unter welchen Bedingungen sie ihre Verhandlungen abbrechen. Zweitens: Die ständige Orientierung „nach unten“ (ist mein aktueller Deal immer noch besser als die No Deal Option?) kann zu schlechten Ergebnissen führen, weil Sie sich selbst demotivieren. Mark Schweizer hat schon 2005 in seiner sehr beeindruckenden Dissertation mit dem Titel „Kognitive Täuschungen vor Gericht“ diesbezüglich zusammengefasst: „Wer sich auf sein Wunschergebnis konzentriert, erzielt objektiv bessere Resultate als derjenige, der sich seine beste Alternative zu einer Einigung vor Augen hält“ (2005, S. 87).
Kurzum: Orientieren Sie sich an den eingangs genannten 3 Regeln.
Dr. Hermann Rock
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Entwickler des Driver-Seat-Konzepts | Über 20 Jahre Verhandlungserfahrung „am Tisch“ | Autor mehrerer Fachbücher zum Thema „Professionelle Verhandlungsführung“
Kundenstimmen:
Dr. Christoph Mund
"Dr. Hermann Rock ist Dozent in unserem Change & Innovation Management Studiengang, welches die Universität St. Gallen in Kooperation mit Dr. Wladimir Klitschko jährlich durchführt. Im Rahmen des Programms lehrt Hermann das Thema Verhandlung. Unsere Führungskräfte sind jedes Jahr aufs Neue von seinem Erfahrungsschatz, praxisnahen Tipps und wissenschaftlichen Erkenntnisse begeistert. Die Kombination aus Best-Practice und anwendungsorientierten Fallbeispielen schafft für unsere Teilnehmer einen nachhaltigen Mehrwert im Transfer. Wir können Hermann als Referent bedingungslos weiterempfehlen und stehen für weitere Auskünfte sehr gerne zur Verfügung."
CA Prof. Dr. H.
"Ich war als Chefarzt sehr glücklich mit meinem Beruf, aber sehr unglücklich mit dem Gehalt. Dr. Hermann Rock hat mit unermesslicher Freundlichkeit, perfekter Systematik und absoluter Präzision die Verhandlungen mit dem Geschäftsführer geleitet. Das Interesse der Gegenseite war gering, aber Dr. Rock hat durch geschickten Strategiewechsel das Interesse geweckt, die Motivation enorm hochgefahren und das Zielgehalt für mich erreicht. Interessant war, dass er die Reaktionen der Gegenseite immer voraus gesagt hat und diese sind immer genau so auch eingetroffen. Ich bin ihm unendlich dankbar, weil ich jetzt mit Beruf und Gehalt zufrieden bin."